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Wie ein Unfall das Leben eines LKW-Fahrers veränderte

in Neuigkeiten - Aktuelles 19.01.2012 08:55
von LB141 (gelöscht)
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"Ich habe sie nicht gesehen“, sagt er vor Gericht. Er ist angeklagt, mit seinem Lkw eine Frau angefahren und getötet zu haben. Für den Mann zerbricht eine Welt, in der er sich auszukennen glaubte.

Als Erwin Preetz die Frau überfährt, denkt er an die Biomüll-Tonne von Horst Hofer*.

Es geschah bei einem Wendemanöver, dass Preetz zusammenzuckte. Da war doch was? Schon hatte dieses Männlein neben seinem Lkw gestanden, gezetert: Wo er, der Fahrer, denn seine Augen habe? Da habe er nun schon die grell orangefarbene Tonne angeschafft, nicht die unauffällige braune. Und nun sehe sich einer die Sauerei an.

Die Tonne war umgekippt, Fliegen umschwirrten das faulende Obst, als Preetz mit einer Schaufel, die Hofer ihm in die Hand gedrückt hatte, den Kompost aus der Einfahrt beseitigte. Die Tonne war unversehrt geblieben, lediglich touchiert hatte Preetz sie mit seinem Lkw.

Dennoch schrieb sich Horst Hofer die Telefonnummer von Erwin Preetz auf. „Manche Schäden sieht man von außen nicht“, sagte er.

So zumindest erzählt es Erwin Preetz zweieinhalb Jahre später im Saal des Verwaltungsgerichts Berlin.

„Das ist aber nicht unser Thema“, sagt der Richter und richtet sich in seinem Stuhl auf.

Für Erwin Preetz ist es das Thema, das eine große Thema, das ihn umtreibt, immerzu. Weil ihm damals in Hofers Einfahrt nur das eine durch den Kopf gegangen ist: Gott sei Dank hat da kein Mensch gestanden.

Er hört noch das Geräusch: "Wumpf" habe es gemacht

Ziemlich genau ein Jahr nach dem Vorfall mit der Biomülltonne streift Erwin Preetz abermals etwas mit seinem Lkw. „Wumpf“, beschreibt Preetz diesen Moment. „Wumpf“, ein undeutliches, unaufdringliches Geräusch, kaum hörbar, mehr fühlbar eigentlich. Zweimal hat es Wumpf gemacht im Leben von Erwin Preetz. Beim ersten Mal ist eine Biotonne umgefallen. Beim zweiten Mal ist eine Frau gestorben.

3479 Mal haben Lastkraftwagen im Jahr 2010 auf deutschen Straßen Fußgänger oder Radfahrer angefahren. 65 Menschen verloren dabei ihr Leben. 659 wurden schwer und zum Teil unheilbar verletzt. Meistens ist das so passiert: Der Lkw biegt rechts ab. Der Fahrer sieht nicht, dass da ein Fußgänger oder Radfahrer von rechts kommt. Zu hoch sitzt er, zu weit weg von der Straße.

In der hintersten Reihe des Saals ist an diesem Donnerstagmorgen im Gericht ein Mann mit einem schmalen, sehr blassen Gesicht. Fünf Monate zuvor ist er Witwer geworden. Preetz hat ihn dazu gemacht. Seine Frau war einkaufen gegangen am späten Nachmittag seines Geburtstags, für ein kleines Abendessen. Zu Hause schneidet er Käsewürfel, deckt den Tisch. Seine Frau hat ein Fladenbrot, Servietten und zwei Dosen Oliven in der Einkaufstüte, als der Unfall passiert.



Erwin Preetz ist ein kleiner, schmächtiger Mann von 1,62 Metern und 51 Jahren. Er wohnt am Stadtrand, drei Zimmer mit Balkon. Ein schwacher, rechteckiger Abdruck an der Tapete im Flur lässt ahnen, dass das Grün einmal heller gewesen ist. Eine gerahmte Fotografie hing dort. Jemand hat sie abgenommen. Als Erwin Preetz mal eben in den Keller geht, holt seine Frau sie hervor. Das Bild zeigt einen jüngeren Preetz, wie er neben seinem Lastwagen steht, kaum an den Seitenspiegel reicht. Die Maschine ist gut sieben Köpfe größer als Preetz. Ist sie ihm über den Kopf gewachsen? Preetz mag das Foto nicht mehr sehen. Seine Frau verwahrt es im Schrank.

Wie schnell so ein Leben ausgelöscht ist, darüber denke er jetzt ständig nach, sagt Erwin Preetz. Wieder erzählt er von der Tonne.

„Erwin, lass doch die Tonne“, sagt seine Frau.

Eine Sekunde, ein Wumpf, sagt Preetz. So vieles kann daran hängen.

Willkürlich erscheint ihm, dem Kraftfahrer, wen oder was es trifft. Von Schicksal solle er aber besser nicht sprechen, hat ihm sein Anwalt geraten. Das wirke sonst, als wolle er sich aus der Verantwortung ziehen.

Maschinen waren seine Leidenschaft

Preetz’ 19-jähriger Sohn ist mit zur Verhandlung gekommen. Er trägt Sportschuhe und Kapuzenpulli und sitzt wie der Witwer in der letzten Reihe, aber ganz am Rand, direkt bei der Tür, und hat die Arme vor der Brust verschränkt.

Der Sohn war gerade ein halbes Jahr alt, als das Foto von Preetz und seinem Stolz aufgenommen wurde. Da hatte Erwin Preetz die Stelle bekommen. 1.600 Euro brutto verdient er. „Ist ja nicht viel. Aber das hieß Sicherheit“, sagt seine Frau. Der junge Erwin Preetz liebte die wuchtigen Fahrzeuge. Über die Motoren konnte er stundenlang referieren, sagt seine Frau. Es ist das einzige Mal, dass sich an diesem Nachmittag ihre Mundwinkel zu einem Lächeln heben.

„Ich konnte sie nicht sehen“, sagt Preetz. „Wie bitte?“ fragt der Richter.

Erwin Preetz hat leise gesprochen. „Ich habe sie doch nicht sehen können“, sagt Preetz. Es klingt flehend. Der Richter will genau wissen, wie die Situation gewesen ist, bevor es Wumpf gemacht hat. Doch die Sätze kommen nur unvollständig aus Erwin Preetz heraus. „Meine Kehle war trocken“, wird er später sagen. Dazu kommt: So richtig erinnert er sich nicht mehr an das, was davor war. Was danach war, das hat er noch sehr präsent, das geht er immer wieder Schritt für Schritt durch, tags und im Traum.

Die Last des Kraftfahrers

38 Prozent. So viel umfasst der tote Winkel, mit dem ein Lkw-Führer auf seinem Sitz klarkommen, den er überbrücken muss. In 38 Prozent passt so einiges hinein, das er nicht sehen kann. Eine Mülltonne. Zwei, drei, vier Mülltonnen, sagt Preetz. Was er nicht sagt, denkt vielleicht: ein Mensch.

Lediglich vier Prozent groß jedoch ist der tote Winkel, den Erwin Preetz von seinem Fahrersitz aus hat, als die Frau die Straße überqueren will. Denn zwei Monate nach der Begegnung mit Horst Hofer hat Preetz sich einen sogenannten Dobli-Spiegel an seinen Lkw montieren lassen. Dobli, das ist eine Kombination aus den niederländischen Worten für „tot“ und „blind“. Der Spiegel vergrößert das Sichtfeld des Fahrers. Entwickelt hat ihn ein Niederländer, dessen Sohn von einem Lkw überrollt wurde.

In Deutschland ist die Anschaffung des Spiegels freiwillig. Preetz’ Chef bestätigt am Telefon, dass Preetz derjenige war, der angeregt hat, einen solchen Hilfsspiegel installieren zu lassen. 150 Euro hat der Chef dafür bezahlt. Er habe das auch deswegen getan, weil er gern Vorreiter ist, sagt er. „Hier hat so’n Spiegel ja fast keiner.“

Eine Frau ist als Zeugin vorgeladen. Sie hat in ihrem Kleinwagen an der Ampel gewartet, an der Kreuzung, wo Preetz rechts abgebogen ist. Sie gibt zu Protokoll: Sehr langsam sei der Lastwagen gewesen, und ja, er habe gestoppt. Die Zeugin will auch gesehen haben, wie der Fahrer den Kopf gewendet hat, „geprüft, ob alles frei ist“, sagt sie. „Das haben Sie aus ihrem Fahrzeug beobachten können?“ – „Ja.“ – „Und dann?“ Dann habe sie noch gedacht, „na die Frau, die wird er ja wohl gesehen haben“.

„Da war also das Geräusch“, sagt Erwin Preetz. Zu Hause, auf seinem rosagelb geblümten Sofa sitzend, erzählt er stockend den Teil der Geschichte, den vor Gericht niemand hören will. Wumpf. Preetz stoppt sofort. Er denkt an die Mülltonne, sein Herz geht schneller. Er sagt sich: eine Mülltonne. Ein Plakataufsteller vielleicht. Ein Mann rennt auf die Straße, gestikuliert wild. Preetz steigt aus, geht um das Fahrerhaus herum. Da liegt eine braunhaarige Frau. Der Mann und eine Frau knien dabei. Preetz kniet sich dazu. Die Frau atmet.

Wie in Trance

Wer den Krankenwagen alarmiert hat, weiß Erwin Preetz nicht, „er war schnell da“. Die Tüte mit dem Fladenbrot, die reicht Preetz den Sanitätern schnell noch rein, bevor sich die Türen des Krankenwagens hinter der Frau schließen. „Ich war so froh, dass sie lebt“, sagt Preetz.

Doch die Frau stirbt noch auf dem Weg in die Klinik. Die Polizisten erfahren es über Funk. Preetz steht dabei.

Was erst später klar wird: Nicht der Stoß des Lkws hat sie tödlich verletzt. Es war die Weise, wie sie fiel, mit dem Kopf aufschlug. Unter glücklicheren Umständen, sagen die Ärzte, hätte sie nur einen Bluterguss am Knie gehabt.

Preetz’ Firma wird informiert, und ein Kollege kommt. Preetz gibt die Schlüssel ab und geht zu Fuß nach Hause. Zweieinhalb Stunden braucht er. Dennoch ist er überrascht, als er vor seiner Haustür steht. „Ich war wie in Trance“, sagt er. Mechanisch hat er einen Fuß vor den anderen gesetzt. Was hat er gedacht? „Nichts.“ Gefühlt? „Nichts.“

Preetz’ Frau ist an dem Nachmittag bei einem Damentreffen. Der Sohn ist im Sportcenter. Als Frau Preetz um kurz vor acht nach Hause kommt, sitzt ihr Mann im Dunkeln im Sessel. „Eine Frau ist tot“, sagt er leise, als sie fragt, was los ist. „Ich konnte sie nicht sehen.“

Der andere Zeuge, der Mann, der Preetz aus dem Wagen gewinkt hat, ist selber Lkw-Fahrer. „An dem Tag war ich in Zivil“, gibt er zu Protokoll. Auch er bezeugt: Erwin Preetz ist ausgesprochen langsam unterwegs gewesen, „auf keinen Fall vorschnell angefahren“. Und dann nimmt er sich viel Zeit, zu erklären, wie schwierig es für den Fahrer eines Lastkraftwagens ist, eine Kreuzung dieser Ausmaße zu überblicken. Bei laufendem Motor vibrieren die Seitenspiegel so, dass das Bild unscharf wird. „Dann blockiert man alles mit seinem Hinterteil, verstehen Sie? Die Leute hupen.“ Die Kunst sei es, Ruhe zu bewahren. „Und er war ja ganz ruhig“, bekräftigt er.

Zu ruhig?

Warten

Als Preetz zu Beginn der Verhandlung seine Personalien angeben soll und der Richter fragt: „Sie sind Lastwagenfahrer?“, zögert Erwin Preetz. „Herr Preetz war lange krankgeschrieben“, sagt sein Anwalt. „Derzeit arbeitet er im Lager seiner Firma. Er hat die Fahrtätigkeit ausgesetzt.“ Erwin Preetz hat kein Steuer mehr angefasst seit dem Unglück.

„Du bist doch immer so gern gefahren“ sagt seine Frau. „Ich muss erst wissen, dass ich unschuldig bin“, sagt Preetz.

"Er hat sich nicht mal entschuldigt"

„Immer, wenn er zu Hause ist, sitzt er da und sagt nichts“, sagt Preetz’ Frau. Preetz sieht fern, aber wenn sie sich dazusetzt und fragt, was bisher passiert ist, vermag er es nicht wiederzugeben. „Er isst auch kaum noch.“ Sie unterdrückt ihre Tränen. Preetz steht auf, geht auf den kleinen Balkon des 60er-Jahre-Mietshauses mit der steinernen Balustrade, nimmt Zigaretten mit. Aber er zündet sich keine an. Lange blickt er reglos über die Grünanlage, die sich zwischen den Häusern des Wohnblocks erstreckt. Sein Blick scheint nichts zu halten.

Zuletzt kommt im Gericht der Sachverständige an die Reihe. Er hatte den Auftrag, die Kreuzung und den Lkw, mit dem Preetz unterwegs war, zu begutachten. Der untersetzte Mann holt weit aus. Er räumt ein, dass das ein „undankbarer Job ist“, Führer einer so sperrigen Maschine. Bisher war Preetz’ Blick fast ununterbrochen an den Boden geheftet, wenn andere geredet haben. Jetzt sieht er den Sachverständigen direkt an.



Sehen und sehen können

Der Sachverständige hat eine Zeichnung angefertigt, die breitet er vor dem Richter aus. „Wer sie sehen möchte, soll nach vorne kommen“, sagt der. Die Zeugen gehen zum Pult. Preetz bleibt sitzen. Ein paar Formeln stehen am Rand des Papiers. Umständlich erklärt der Sachverständige, was er berechnet hat. „Schauen Sie, dieser Spezialspiegel, der macht einen Großteil des Bereichs sichtbar, der sonst toter Winkel ist“, sagt er. Der Richter interessiert sich sehr für das Detail mit dem Spiegel. Genauestens lässt er sich dessen Vorteile erläutern. „Und was heißt das?“, fragt er schließlich. Das heiße, ein bis zwei Sekunden lang habe Erwin Preetz die Fußgängerin in diesem Spiegel sehen können, sagt der Sachverständige.

Preetz verkrampft.

„Er hätte sie sehen müssen“, flüstert der Witwer.

Zwei Sekunden in einem von vier Spiegeln.

Das letzte Wort hat Erwin Preetz. „Noch mal: Ich habe sie nicht gesehen“, sagt er.

„Das haben wir ja nun gehört“, sagt der Richter. „Und das glauben wir Ihnen auch. Die Frage ist: Hätten Sie sie sehen können?“

„Nein“, sagt Preetz.

Erwin Preetz wird schuldig gesprochen an diesem Nachmittag. Der Richter erklärt: Eine Geldstrafe werde für ausreichend erachtet. Unter Berücksichtigung seines Einkommens wird die Summe auf 3.000 Euro festgesetzt. Für Preetz macht es in diesem Moment keinen Unterschied, ob er wenig oder viel Geld zahlen muss oder ins Gefängnis soll.

„Schuldig.“ Das ist, was bei ihm hängen bleibt.

Es war nur ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, sagt der Richter. Preetz habe im entscheidenden Moment nicht in den richtigen Spiegel geschaut. Aber nach dem Gesetz sei das fahrlässige Tötung.

Aus der hintersten Reihe springt ein Mann auf. „3.000 Euro?“ ruft er. „Er hat meine Schwester getötet. Dann legt er 3.000 Euro hin und alles ist gut?“ Leise murmelt der Anwalt von Erwin Preetz: „Es ist immer das Gleiche. Es wird keine Trauerarbeit geleistet.“

„Er hat sich nicht mal entschuldigt“, ruft der Mann. Der Anwalt berichtigt. Er selber habe sich schriftlich im Namen von Erwin Preetz bei den Angehörigen entschuldigt. „Das zählt doch nicht“, ruft der Mann. Preetz vergräbt das Gesicht in den Händen.

Preetz schreibt einen Brief

Einen Tag nach dem Urteil teilt Erwin Preetz seinem Arbeitgeber mit, dass er nicht mehr in den Fahrerdienst zurückkehren möchte. Das ist ein Problem, sagt sein Chef. Eigentlich sei das nur als Übergangslösung gedacht gewesen, im Lager könne er keine weitere Kraft brauchen. Er weiß nicht, ob er ihn wird weiterbeschäftigen können. Er sagt es Preetz gleich am Telefon. „Überlegen Sie es sich.“ Preetz hatte nicht einen Punkt in Flensburg.

„Ich kann nicht“, sagt Preetz. Dann legt er auf. Die kleinsten Sünder tun die größte Buße, hat Marie von Ebner-Eschenbach gesagt.

Preetz’ Frau rät ihrem Mann, er soll einen persönlichen Brief an die Familie der Frau schreiben. Damit er sich nicht mehr so schlecht fühlt. Und endlich wieder Normalität einkehrt in ihren Alltag. Eine Woche nach der Verhandlung sieht sie: Er hat etwas geschrieben. Auf der Schlafzimmerkommode liegt ein Brief.

Erwin Preetz hat an Horst Hofer geschrieben. Wie leid es ihm tue, dass er seine Tonne umgefahren hat. Erwin Preetz schickt den Brief nicht ab. Er hatte es nie vor. Aber zu mehr war er noch nicht in der Lage.

* Namen geändert.



http://www.tagesspiegel.de/berlin/zwei-s...te/6077706.html


zuletzt bearbeitet 19.01.2012 08:55 | nach oben springen


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